film&philosophie: memento

Krishna beschreibt die Situation des Lebewesens in der materiellen Welt im Srimad Bhagavatam folgendermassen:

Wenn ein Lebewesen seine spirituelle Identität der qualitativen Einheit mit Mir in Ewigkeit, Wissen und Glückseligkeit vergisst, weil es denkt, es sei von Mir verschieden, beginnt sein materielles, bedingtes Leben. Statt also sein Interesse mit Meinem gleichzusetzen, beginnt es, sich mit seinen körperlichen Erweiterungen wie seiner Frau, seinen Kindern und seinen materiellen Besitztümern zu identifizieren. Auf diese Weise bringt ein Körper durch den Einfluss seiner Handlungen einen weiteren hervor, und nach dem Tod findet ein weiterer Tod statt (SB 6.16.57).

Gemäss dieser Aussage basiert unser Leben in dieser Welt auf der Tatsache, dass wir unsere wahre Identität vergessen haben. Obwohl man diese Tatsache rein intellektuell einfach verstehen kann, ist es doch sehr schwierig, sie praktisch nachzuvollziehen, denn etwas Vergessenes, wie eben unsere spirituelle Identität, ist aus unserem Bewusstsein und somit aus unserer Realität gänzlich verschwunden. Sobald wir uns jedoch an etwas Vergessenes erinnern, wird es sofort wieder Teil unserer Realität. Zum Beispiel der Tod: Hin und wieder begegnen wir dem geflügelten Wort “Memento mori” – eine Aufforderung, den Tod nicht ausser Acht zu lassen, sondern sich an ihn zu erinnern.

Bestimmte Ereignisse in unserem Leben erinnern uns zwar manchmal an den Tod, doch meistens sind wir mit dem Leben vollauf beschäftigt. Denn; nicht nur an den Tod, auch an das Leben müssen wir uns ständig erinnern. Nicht etwa, um philosophischen Tiefgang oder religiösen Sinn zu erzeugen, sondern ganz einfach, um im Alltag überhaupt funktionieren zu können. Das meiste, das wir im Kleinkindalter entdecken und lernen, wird später in unserem Alltag eine ganz selbstverständliche Erinnerung. Zum Beispiel: wie man geht, indem man einen Fuss vor den anderen setzt, wie man eine Türklinke drückt, einen Wasserhahn öffnet, die Schuhe schnürt (als Kind ein riesiges Erfolgserlebnis, das einem der Welt der “alleskönnenden” Erwachsenen ein ganzes Stück näherbringt), wie man einen Lichtschalter betätigt oder mit Messer und Gabel umgeht. Erinnern müssen wir uns als Kind auch ständig, wie die Mutter, der Vater, die Geschwister oder die Nachbarn aussehen, wie sie sich bewegen, wie ihre Stimmen klingen. Tausender Dinge und mehr erinnern wir uns während des Tagesablaufs, und wäre unser Erinnerungsvermögen gestört, wären wir kaum funktionsfähig.

Die Erinnerungen, die die vielfältigen täglichen Funktionen betreffen, sind praktisch ständig in Betrieb, während andere Erinnerungen irgendwo abgespeichert werden und uns irgendwann mal “entfallen”. Oder die Erinnerungen sind zwar noch da, aber wir können sie gerade nicht finden – dennoch beeinflussen sie uns.

Die Persönlichkeit Gottes sprach: Viele, viele Geburten haben sowohl du als auch Ich in der Vergangenheit angenommen. Ich kann Mich an sie alle erinnern, doch du kannst es nicht, o Arjuna (Bg 4.5).

Unser “Selbstverständnis” basiert ebenfalls auf unseren Erinnerungen. Erinnerungen, die aus unserem Leben in der materiellen Welt stammen, während die Erinnerungen an unsere spirituelle Identität, gemäss obigen Versen aus der Bhagavad-gita, verdeckt bleiben. Wer bin ich vor mir selbst? Wer sind die Menschen um mich herum, und wie stehen sie zu mir? Diese Definitionen werden also aufgrund von Erinnerungen gemacht. In jeder Situation und Interaktion mit Menschen erinnern wir uns an vergangene Begegnungen und Ereignisse und benehmen uns dementsprechend. Was würden wir tun, wenn jede Begegnung mit anderen Menschen – und sogar mit uns selbst – immer wieder völlig neu und erstmalig wäre? Ohne jegliche negative oder positive “Vorbelastung” durch Erinnerungen?

Genau dies ist die Ausgangslage im Film “Memento”: Ein Mann verliert durch die Verletzungen, die er bei einem Raubüberfall erlitten hatte, sein Langzeitgedächtnis. Was mehr als fünf Minuten zurückliegt, verschwindet im Nebel des Vergessens, und er weiss nicht mehr, wer ihm gegenübersitzt, worüber gesprochen wurde und was er hier eigentlich tut. Im Film “Memento” wird der Zuschauer in dieselbe Situation versetzt wie der Mann mit dem Gedächtnisverlust. Der Film zeigt die Ereignisse sozusagen von hinten nach vorn. Er beginnt mit der Schlussszene und wird dann Szene für Szene von hinten nach vorn aufgerollt. Eine bestimmte Szene beginnt also nicht als logische und zeitliche Fortsetzung der gerade gesehenen Szene, sondern als unbekanntes Geschehen, das sich langsam zum logischen Anfang der vorhergehenden Szene verdichtet.

Der Film verlangt vom Zuschauer ein ständiges mentales Puzzlespiel, solange, bis er langsam zu einer beklemmenden Erkenntnis kommt: dieser Mann ohne Gedächtnis benutzt die Situation, um aus beliebigen Faktoren des Geschehens eine für ihn reale Welt aufzubauen, die für ihn einen Lebenssinn ergibt. Er tut es im Wissen, dass er nach ein paar Minuten seinen Selbstbetrug wieder vergessen wird. Hauptsache, er hat einen Lebenssinn erhalten, und dieser Lebenssinn ist der folgende: Beim Raubüberfall wurde seine Frau ermordet, und der Mörder wurde nie gefasst. Den Mörder seiner Frau zu finden und ihn zu bestrafen, ist nun zu seiner Lebensaufgabe geworden. Dabei muss er mit seinem schwerwiegenden Handicap – dass er nach fünf Minuten alles wieder vergisst – fertig werden.

Im Bhakti-rasamrita-sindhu wird der Verlust des Gedächtnisses, hervorgerufen durch schweren Schock aufgrund der Trennung vom Geliebten, als jadiya beschrieben. In diesem Geisteszustand verliert man alles Interesse an Verlust und Gewinn, Hören und Sehen sowie allen anderen Überlegungen. Dies kennzeichnet das vorbereitende Erscheinen von Illusion (CC Mad. 4.202 Erl.).

Der Protagonist muss sich also alle gesammelten Fakten dauernd wieder in Erinnerung rufen – mittels einer Zettelsammlung und beschrifteten Polaroidfotos von Personen, Dingen und Orten. Ganz wichtige Tatsachen lässt er sich auf seinen Körper tätowieren, wie zum Beispiel die lebenssinnspendende Tatsache, dass er den Mörder seiner Frau finden und töten muss. Die tätowierten Informationen auf seiner Haut werden für ihn zu unabänderlichen Tatsachen.

Als Zuschauer begleitet man diesen Mann in seiner schwierigen Lage, ohne Gedächtnis einen Mordfall aufklären zu wollen, und wegen der szenenweise rückwärtslaufenden Handlung kann auch der Zuschauer keine Erinnerungen an die vorherigen Geschehnisse mit in eine Szene bringen, sondern kann nur sehen, was aus einer Szene resultiert, und das ist dann die Ausgangslage der vorherigen Szene. Man beginnt mit dem Mann mitzufühlen und beginnt ihn dafür zu bewundern, wie er mit äusserster Beharrlichkeit und Geduld jede Tatsache, die er herausgefunden hat, sofort in sein externes Erinnerungssystem einordnet: Fotos, Zettel und hin und wieder die Tätowierung einer neu herausgefundenen Tatsache, die über jeden Zweifel erhaben ist.

Langsam aber sicher muss der Zuschauer jedoch vom Erinnerungsbild, das sich der Mann laufend aus der Vergangenheit zusammenbastelt, Abschied nehmen. Gewisse Vorkommnisse und Gespräche im Handlungsablauf zwingen den Zuschauer, einen anderen Gedankengang als denjenigen des Mannes ohne Gedächtnis aufzunehmen. Es scheint alles ganz anders gewesen zu sein: Der Überfall ist zwar eine Tatsache, aber seine Frau ist dabei nicht umgekommen. Durch das jahrelange, zermürbende Zusammenleben mit dem gedächtnislosen Ehemann wurde die Frau ihres Lebens überdrüssig. So benutzte die zuckerkranke Frau ihren Mann, um eine tödliche Überdosis Insulin verabreicht zu bekommen. Sie bat ihn alle fünf Minuten, ihr die fällige Tagesration Insulin zu spritzen, bis sie ins Koma fiel und starb. Um diese schreckliche Tatsache ungeschehen zu machen, hat der Mann seinerseits den Gedächtnisverlust benutzt, um in seinem externen Gedächtnissystem falsche Tatsachen einzubauen und sich diese Tatsachen andauernd wieder in Erinnerung zu rufen – beginnend mit der grundlegenden “Tatsache”, dass er den Mörder seiner Frau suchen und töten muss.

Eine weitere Erkenntnis dämmert dem Zuschauer: Der Mann ohne Gedächtnis wird von einer Mafia-Bande, die seine Obsession kennt, als Killer benutzt. Immer wieder belieferte die Bande den Mann mit “Tatsachen”. Schon viele “Mörder seiner Frau” hatte der Mann aufgespürt und getötet und wurde dabei jeweils vom Verbindungsmann der Mafia fotografiert. Der Verbindungsmann zeigte dem Gedächtnislosen diese Fotos und bemerkte hämisch, dass er sich keine Gedanken darüber machen müsse, denn schliesslich erinnerten sich alle Menschen nur an das, was sie wollten und zimmerten sich so ein selbstgefälliges Bild ihrer selbst zusammen. Und zudem würde er nach fünf Minuten ja ohnehin wieder alles vergessen und sie könnten ihn dann weiterhin als Killer benutzen…

Diese erniedrigenden Worte will der Gedächtnislose unter keinen Umständen wahrhaben, denn sie zerstören seinen Lebenssinn. So notiert er die Autonummer des Mafia-Mannes und lässt sie sich umgehend in seine Haut tätowieren – als Autonummer des Mörders seiner Frau. Schon bald hat er alles vergessen, ausser der eintätowierten Tatsache mit der Autonummer des Mörders. Und so beginnt er erneut mit der Jagd nach dem Sinn seines Lebens – der Jagd nach einem neuen Mörder seiner Frau…

Dass der Gedächtnislose sich seine Welt und seine Identität aus Illusionen aufbaut, spielt sich nicht nur im Film so ab, sondern scheint tatsächlich eine menschliche Schwäche zu sein. Dies hat jedenfalls eine Untersuchung über die Psycho-Therapie bestätigt, die im MAGAZIN 50/2000, Seite 35/36, erschienen ist:

(…) Zudem ist das Gedächtnis ein flatterhafter Chronist. Es schneidet sich einen bunten und je nach Lebenssituation sich verändernden Erinnerungsfilm zusammen; aus Eigenem und Fremden, aus Ereignetem, Imaginiertem, später Gehörtem oder Gelesenem. Immer vorgaukelnd, es handle sich um selbst erlebte Geschehnisse und immer dem Auftrag seines Herrn, dem Ego gehorchend: eine vorteilhafte und schmeichelnde Geschichte zu liefern. Studien haben aufgezeigt, wie einfach es ist, Leuten falsche Erinnerungen einzupflanzen. Emotionale Hochtemperatursituationen wie Psychotherapien eignen sich ideal für Suggestion. Die Erinnerungsbilder der Patienten entsprechen auffällig oft der Theorie des Therapeuten. Auch dieses Phänomen war Karl Kraus nicht entgangen: “Ein guter Psychologe ist imstande, dich ohne weiteres in seine Situation zu versetzen.”

Demgemäss scheinen wir einen natürlichen Hang zum Selbstbetrug zu haben. Mit geliehenen Erinnerungen, vergessenen Tatsachen, interpretierten Ereignissen bauen wir uns eine Identität. In Bezug auf unsere spirituelle Identität bestätigen die Veden genau den gleichen Sachverhalt. Wer willens ist, als spirituelles Wesen in der materiellen Welt zu leben – und zu geniessen –, muss grundlegende Tatsachen aus seinem Gedächtnis ausblenden.

Es gibt für das Lebewesen vielfache Formen des materiellen Daseins, die sich nach der Arbeit richten, die es in Vergesslichkeit seiner wirklichen Identität ausführt. Wenn jemand in diese Vergesslichkeit eintritt, kann er nicht verstehen, wo seine Bewegungen enden werden (SB 3.32.38).

Die bedingte Seele erkennt manchmal selbst, wie nichtig Sinnengenuss in der materiellen Welt ist, und manchmal sieht sie ein, dass materieller Genuss eine Vielzahl von Leiden nach sich zieht. Doch infolge ihrer tiefverwurzelten körperlichen Lebensauffassung wird ihr Erinnerungsvermögen zerstört, und sie jagt immer wieder materiellem Genuss nach, genau wie ein Tier, das einer Luftspiegelung in der Wüste nachläuft (SB 5.14.10).

Weil die Vergessenheit und der Glaube an die Illusion der eigentliche Wunsch des Lebewesens ist, hilft ihm Krishna bei diesem Unterfangen. Ich weile im Herzen eines jeden, und von Mir kommen Erinnerung, Wissen und Vergessen (Auszug Bg 15.15).

Plötzlich durch den Wind nach unten gedrückt, kommt das Kind mit grosser Mühe heraus, den Kopf nach unten, atemlos und aufgrund starker Schmerzen der Erinnerung beraubt (SB 31.23).

Krishna hat demgemäss volles Verständnis für den gedächtnislosen Mann, der sich eine Illusionswelt aus unwahren Erinnerungen aufbaut, denn dies tun auf die eine oder andere Art eigentlich alle Lebewesen in der materiellen Welt. Durch die Veden möchte Krishna den Lebewesen helfen, den Wunsch zu entwickeln, sich wieder an die ewigen Tatsachen zu erinnern, um glücklich und zufrieden zu leben.

Bali Maharaja war in allen Dingen sehr erfahren. Als er durch die Gnade Sukracaryas wieder zur Besinnung kam und sich zurückerinnerte, konnte er alles, was geschehen war, verstehen. Obwohl er besiegt worden war, klagte er daher nicht (SB 8.11.48).

“Mementos” – Zeichen der Erinnerung – helfen dem Menschen, auf seine ewige spirituelle Identität zu achten…