entschleunigung

Schnee fällt und überzieht das ganze Land mit einer weissen Decke. Sei es nun ein stiller Waldweiher oder geschäftige Verkehrswege. Der Schnee bedeckt alles, ohne jegliche Rücksicht auf unser beschleunigtes Leben in der Stadt, das keine Hindernisse auf dem Weg zum Erfolg, zum Ziel dulden will.

Strassen, Schienen, Brücken und Tunnels – alles ist darauf ausgerichtet, dass wir vorwärts kommen, und zwar so schnell wie irgend möglich. Die technisierte Menschheit setzt alles daran, die täglichen Abläufe zu beschleunigen. Beschleunigung ist das Wort, das wir kennen, dem wir oft begegnen. Entschleunigung tönt eher ungewohnt, wird nicht oft benutzt. Seit Menschengedenken wird Fortschritt mit Schnelligkeit gekoppelt. Man will nicht nur “fortschreiten”, sondern schnellen Fortschritt machen – in allen Lebensbereichen, sei es im Berufsleben oder in der Freizeit.

Vielleicht sagt uns ein Urinstinkt, dass unsere Zeit beschränkt ist und wir uns deshalb beeilen müssen, um möglichst viel “Lebzeit” in unsere gegebene Zeitspanne hineinzupacken. Je schneller wir eine Sache erledigen können, desto mehr Zeit bleibt für die anderen Dinge übrig. Die notwendigen Sachen wollen wir schnell hinter uns bringen und die Dinge, die wir um des Genusses willen tun, sollen mehr Zeit in Anspruch nehmen können. Das ist der Plan. Doch sobald wir uns zurücklehnen und geniessen wollen, kommen Gedanken auf, die uns befürchten lassen, dass es woanders noch etwas Genussvolleres geben könnte – und eine gewisse Unruhe breitet sich in uns aus. Man könnte doch schnell noch etwas anderes ausprobieren, noch schnell einen anderen Ort auschecken… Und so geschieht es oft, dass unsere “entspannte” Freizeit noch gehetzter, noch beschleunigter wird als unser Berufsalltag.

Doch dann fällt hin und wieder der Schnee vom Himmel. In dicken Flocken fällt er über das Land und die Stadt und fliesst nicht einfach in den nächsten Gulli, wie der Regen. Nein, er bleibt frech und rücksichtslos liegen und macht Strassen und Bürgersteige glitschig. Schlagartig wird der gesamte Verkehrsablauf entschleunigt und eine gedämpfte Ruhe legt sich über die gewohnte Hektik. Vorsichtig und im Schneckentempo kriechen die Autos hintereinander her. Keiner wird mehr ungeduldig und jeder ist froh das Abenteuer des Heimweges ohne Blechschaden zu überstehen.

Fussgänger balancieren mit ihren mehr oder meist weniger schneetauglichen Schuhen auf den Trottoirs umher und halten sich fest, wo es was zum Halten gibt. Und irgendwie macht es den Eindruck, als würden die Menschen diese Situation geniessen oder sich zumindest nicht sehr darüber ärgern. Es trifft alle gleichermassen, alle werden gemeinsam entschleunigt und es tut allen wohl. Alles wird mit einer reinen weissen Schicht überzogen, die Geräusche werden gedämpft und trotz aller Beeinträchtigung des gewohnten Ablaufs finden praktisch alle Menschen den Schneefall schön und herzerwärmend.

Vielleicht deshalb, weil die schneebedingte Entschleunigung so etwas wie eine “automatische” Zunahme von sattva erzeugt. Sattva wird in Indien das Ausgeglichene, Ausgewogene, Bedächtige, Tugendhafte genannt und so erzeugt sattva Gelassenheit, Ruhe und Zufriedenheit. Die hektische, leidenschaftliche Umtriebigkeit (rajas) weicht – gezwungenermassen – der gelassenen Ruhe. Eine unkonzentrierte Bewegung am Steuerrad kann den Wagen ins Schleudern bringen, ein unachtsamer Schritt kann einen unsanft zu Boden schicken. So ist ein jeder plötzlich von Achtsamkeit erfüllt und geht seinen Weg ruhig und bedächtig, die Gedanken auf den nächsten Schritt gerichtet, ganz im Augenblick anwesend.

Das ist Meditation! Und der Schneefall bringt diese meditative Stimmung mit sich, zumindest einen Ansatz davon. Erkennt man, dass die schöne Stimmung einer tiefverschneiten Stadt von der daraus resultierenden Entschleunigung herrührt, kann man sich bewusst an die Aufgabe machen, das eigene Leben, da, wo es möglich ist, zu entschleunigen. Sich bewusst darüber werden, dass man sein Leben nicht mit möglichst vielem auffüllen muss um ein sogenannt erfülltes Leben zu haben, sondern mit wenigem, möglichst tief Erlebtem. Das könnten wir vom tiefverschneiten Winter lernen und uns ein wenig von dieser gedämpften Ruhe bewahren, wenn der Frühling mit seiner emsigen Geschäftigkeit wieder ins Land zieht…