Antarktis 2011: Mount Vinson-Besteigung

Unzugängliche Orte haben mich schon immer fasziniert. Unzugänglichkeit zu überwinden war in früheren Zeiten harter Alltag. Vom Trampelpfad bis zur Autobahn, vom Rauchzeichen und der Buschtrommel bis zum “www”, wurde alles unternommen um Unzugänglichkeit zu vermindern. Und so ist die Unzugänglichkeit heute beinahe ein Luxusprodukt geworden. Ein teures Abenteuer. Nichtsdestotrotz: Ich konnte es mir nicht verkneifen, nach meiner Reise zur Carstensz Pyramide in West-Papua, den Mount Vinson, diesen Berg am Ende der Welt, ebenfalls zu besuchen.

In der Antarktis stehen…

Stell dir mal vor, du stehst mitten in der Antarktis. Um dich herum endloses, gleissendes Weiss, über dir ebenso endloses, strahlendes Blau. Absolute Stille, das Blut rauscht in deinen Ohren, du hörst dein Herz schlagen. Würdest du einen Schritt machen, zerbräche die Stille vom ohrenbetäubend lauten Knirschen des Schnees unter deinen Sohlen. Aber du machst keinen Schritt, sondern stehst nur da – als einziges Lebewesen weit und breit. Ja, wirklich das einzige Lebewesen, denn in dieser lebensfeindlichen Wüste im Ellsworth-Gebirge inmitten der Antarktis können nicht einmal Bakterien überleben. Auch nicht die primitivsten Pflanzen und Moose, die sonst unter kargsten Bedingungen im Gebirge an Felsen wachsen, existieren hier. Nur du allein – und ja, natürlich die paar „wenigen“ Lebewesen, die du im kleinen, warmen Kosmos deines Körpers beherbergst.

In dieser lebensfeindlichen Unerbittlichkeit hat diese Landschaft gleichzeitig etwas Grossartiges und Faszinierendes. In seiner Jahrtausende währenden Sterilität scheint der ganze Kontinent in einem Koma-ähnlichen Zustand auf Krishnas Schöpfung zu warten. Nicht einmal die Sonne zeigt den Lauf der Zeit durch Tag und Nacht an. Sie steht einfach am Himmel, zeichnet zwar einen Kreis, der jedoch das Licht nie mindert. Und auch der Schnee, in seinem frischen, perfekten Weiss ist nicht „frisch“, sondern etliche Jahrzehnte alt, von antarktischen Stürmen hin- und hergetrieben, unzählige Male betonartig hartgepresst, dann wieder – scharfe Rillen bildend – weggeschliffen und weiter getrieben. Die jährliche Neuschneemenge ist gering, schmilzt jedoch nie weg und baut sich auf – über Jahrhunderte und Jahrtausende – bis auf stellenweise 4000 Meter Dicke. Die bis knapp 5000 Meter hohen Gebirge von Antarctica, das übrigens grösser als Australien oder die USA ist, ragen also nur mit ihren felsigen Gipfelspitzen aus dem dicken Eispanzer hervor.

So kommt zum Weiss um dich herum und zum Blau über dir noch das uralte, aberhunderte von Metern dicke Eis unter deinen Füssen, das so schwer ist, dass es den gesamten Kontinent weit unter den Meeresspiegel drückt. Eine faszinierende Vorstellung!

Gestern „Nacht“ – bei hellem Sonnenschein und dem Versuch zu schlafen – habe ich mit meinem Zeltnachbarn die Unwirtlichkeit dieses Erdteils besprochen, und wir stellten uns vor, was passieren würde, wenn wir einen einzigen Gegenstand unserer Ausrüstung verlieren würden. Das Feuerzeug: Schrecklich! In weniger als einer Woche wären wir verdurstet. Den ganzen Tag über sind wir daran, mit Benzinkochern Schnee zu schmelzen, um genügend flüssiges, trinkbares Wasser zu erhalten. Es braucht eine Unmenge von Schnee, nur um einen Liter zu erhalten! Die Handschuhe: Die Finger würden in kurzer Zeit erfrieren. Die Handschuhe sind mit Klettschlaufen an den Armen befestigt, damit sie bei Unachtsamkeit nicht vom Wind fortgeblasen werden können. Gesichtsmaske: Der leiseste Lufthauch lässt deine Nasenflügel schnell gefühllos werden und Frostbeulen entstehen. Daunenschlafsack, Thermounterwäsche, Zelt, Isoliermatte – und so weiter… Jeder Gegenstand ist überlebenswichtig und deshalb absolut unverzichtbar!

Eisige Kälte streift über mein Gesicht, die antarktische Realität hält mich fast automatisch im „Hier-und-Jetzt“ gefangen. Obwohl dieses „Hier-und-Jetzt“ ziemlich oft bemüht wird und schon eher nach einer leeren Phrase tönt, beschreibt es trotzdem den Zustand eines vollständig fokussierten Geistes: Dass ich mich nicht durch Vergangenes – das ohnehin nicht mehr geändert werden kann – und nicht durch Zukünftiges – das sowieso ganz anders kommen kann, als ich es erwarte – ablenken lasse und ganz im gegenwärtigen Augenblick verweile.

Paradoxerweise nehme ich die wenigen Sinneseindrücke, die durch die absolute Kargheit entstehen, viel intensiver wahr. Vielleicht deshalb, weil der Geist weniger Sinneseindrücke zu verarbeiten hat und so auf jeden einzelnen Eindruck tiefer und umfassender eingehen kann. In meiner „normalen“ Umgebung bin ich eigentlich meist damit beschäftigt, ungewollte Sinneseindrücke, die sich mir andauernd aufdrängen, auszublenden. Kurvenkreischende Eisenräder in Tramschienen, üppig wallende Parfümwolken in geschlossenen Räumen, schwafelnde Werbemenschen mit aufdringlichen Angeboten, unglaublich aufwändige, unglaublich grosse und unglaublich unnötige Werbeplakate wohin das Auge schweift…

Hier in der Antarktis sind die Sinne nicht damit beschäftigt Ungewolltes auszublenden, sondern sie stürzen sich förmlich auf einen wahrnehmbaren Eindruck. Besonders während einem „Whiteout“, wo sich alle Konturen und Kontraste in einem milchig grauen Weiss auflösen. Das Auge findet kaum einen Orientierungspunkt und so kommt der Gleichgewichtssinn ins Wanken. Schon ein dunkelgrauer Fleck bietet da willkommene Abwechslung für den Sehnerv.

Alleine das fand ich einen interessanten Aspekt dieser Reise, abgesehen vom alpinistischen Highlight.

Ein paar Bilder machen dies vielleicht deutlich…